Xeltis entwickelt „natürliche“ Herzklappen aus biologisch abbaubaren Polymeren; wiederholte Herzklappenoperationen werden womöglich künftig überflüssig.
Er ist Mitgründer von Xeltis. Ein Spin-off der TU Eindhoven und einer der vielversprechendsten Start-ups im medizinisch-technologischen Bereich weltweit. Das Unternehmen entwickelt „natürliche“ Herzklappen aus biologisch abbaubaren Polymeren, die künftig womöglich wiederholte Herzklappenoperationen überflüssig machen. Das wäre vor allem bei Kindern eine Lösung. Was Martijn Cox antreibt: „Ich will lernen zu durchschauen und höre erst auf, wenn das erreicht ist. Aufgeben passt nicht zu mir.“
An dem Tag in Budapest erhält zum ersten Mal ein Patient ‚seine‘ Kunststoffherzklappe. Nach 12 Jahren der Forschung ist das der Moment, auf den er die ganze Zeit gewartet hat. Martijn Cox darf im OP dabei sein. Mit weichen Knien beobachtet er die Handlungen des Arztes. „Die Operation klappte - klar, so ein Chirurg tut nichts anderes - gut. Dennoch, es war ein mulmiges und besonderes Gefühl, so viel Spannung. Man hat von Anfang an einen Traum, die Entwicklung einer abbaubaren Kunststoffherzklappe. Die muss aber schon funktionieren. Dann: „Ja, dem Patienten geht es gut.“ Genau wie den anderen Kindern, die inzwischen unsere Herzklappe tragen. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Wir müssen noch viel mehr verstehen lernen.“
Martijn Cox ist Chief Technology Officer bei Xeltis, weltweit als einer der vielversprechendsten Start-ups der Medizintechnik gesehen. Bei dem Unternehmen arbeitet man an einer bahnbrechenden Innovation, die einem das Herz buchstäblich schneller schlagen lässt. Eine Herzklappe aus Kunststoff, die sich im Körper des Patienten von selbst in eine natürliche Herzklappe umwandelt. Cox kennt die Superlative, beantwortet sie jedoch mit einem Achselzucken. Das muss wohl der nüchterne Brabanter in ihm sein. In der Ortschaft Budel aufgewachsen, wohnt er nun wieder dort, auf dem Land, wo einst die Kühe seines Opas grasten. Seine Frau stammt aus Bergeijk, nur einen Steinwurf entfernt. „Ich habe in Eindhoven gewohnt, aber Budel ist meine Heimat. Dort wohnt die Verwandtschaft und der Freundeskreis. Budel ist wie ich bin. Ich hänge an meiner Heimat.“
Er wirkt etwas schüchtern, zaghaft. War früher „ein ruhiger Junge, ein bisschen verlegen“. Er spielte gern draußen, kann auch gut Schach spielen. Das lernte er von seinem Vater: „Als er nicht mehr gegen mich gewinnen konnte, schickte er mich in den Schachclub.“ Er hat auch gegen Jungen gewonnen, die heute Schachgroßmeister sind, aber nein, sein Ehrgeiz lag woanders. Bereits früh in der Sekundarstufe wusste er, was er wollte: ein Studium der biomedizinischen Technik an der Technischen Universität Eindhoven. Damals eine ganz neue Studienrichtung. „Ich gehörte zur dritten Kohorte.“ Naturwissenschaften liegen ihm und er liebt Biologie; im Studium kommt beides zusammen. Medizin oder Pharmazie, nein, nichts für ihn. „Auswendiglernen hasse ich. Dazu bin ich viel zu faul. Fürs Lernen von Vokabeln kann ich mich auch nicht begeistern. Ich will nicht büffeln, sondern Zusammenhänge erkennen. Ich höre erst auf, wenn ich etwas begreife. Aufgeben passt nicht zu mir.“
Für Nicht-Kenner: Biomedizinische Technik ist ein Begriff, der Entwicklungen innerhalb der biomedizinischen Wissenschaft und Technologie zusammenfasst. Sie hat Berührungspunkte mit Physik, Chemie, Elektrotechnik, Informatik, Maschinenbau, Biologie und Physiologie. Biomedizinische Ingenieure versuchen Krankheiten zu begreifen und entwickeln Geräte zur Diagnose und Behandlung. Bioprozesstechnologie in Wageningen sei ein vergleichbares Studium, sagt Cox. „Aber dort beschäftigt man sich eher mit der Ernährung. Ich interessiere mich mehr für den menschlichen Körper. Ich will wissen, wie er funktioniert und wie man seine Funktionen entschlüsseln und wo notwendig verbessern kann. Dazu kann man alle möglichen mathematischen und chemischen Modelle entwickeln.“
Der Mensch als mathematische Formel? Das verlangt eine Erklärung. Cox: „Unser Körper ist ein Verbrennungsmotor, der auf Proteine und Kohlehydrate läuft. Beide liefern Energie. Man kann sehr gut mathematisch berechnen, wie viel man davon braucht, bevor man eine wesentliche sportliche Leistung erbringen muss.“ Wie beispielsweise bei Rennradfahrern, Eisläufern oder Marathonläufern. Ja, er selbst läuft auch Halbmarathons, und dann beschäftigt er sich vorher nicht mit Berechnungen oder mathematischen Formeln, um zu prüfen, ob er genug gegessen hat. „Mit Hilfe der Chemie lassen sich Krankheiten gut beobachten. Wenn man weiß, welche Proteine bei Erkrankungen eine entscheidende Rolle spielen, kann man Moleküle herstellen, um die Entstehung solcher Proteine auszubremsen oder eben zu aktivieren. Und daraus lassen sich Medikamente entwickeln.“
Orthesen, Prothesen, Herzschrittmacher, Kunstlinsen sowie für chirurgische Behandlungen erforderliche (Computer)apparatur: Das sind nur ein paar Beispiele von Anwendungen biomedizinischer Technik in der Praxis. Cox entwickelt bereits bald während seines Studiums eine Faszination für künstliche Herzklappen, womit man in Eindhoven gerade beschäftigt ist. „Die Entwicklung einer Herzklappe bereitet mir mehr Genugtuung als etwa die Entwicklung eines neuartigen Staubsaugers. Das Herz spricht mich auch mehr an als ein Knie. Das hat nichts mit Komplexität zu tun, denn vielleicht ist ein Knie ja viel komplexer. Aber die Wirkung ist größer. Das habe ich in mir. Was ich tue, soll Sinn machen und Wirkung zeigen.“
Zuerst mal das Herz öffnen. Cox nimmt ein Modell, stellt es auf den Tisch und beginnt sofort, es auseinanderzunehmen. Ein Herz besteht aus einer linken und rechten Hälfte, doziert er, beide bestehen aus einem Vorhof und einer Herzkammer. Jede Hälfte besitzt auch zwei Herzklappen. Zusammen sorgen sie dafür, dass das Blut in die richtige Richtung durch den Körper strömt. Die linke Herzhälfte (mit der Aorten- und Mitralklappe) pumpt das Blut Richtung Gewebe und Organe, die rechte Hälfte (mit der Pulmonal- und Trikuspidalklappe) pumpt Richtung Lunge. Das ist eigentlich merkwürdig: „Die Herzklappen spielen eine wichtige Rolle im Kreislauf, ohne sich selbst aktiv zu bewegen. Sie besitzen keine Muskelzellen und bewegen sich mit im Blutstrom. Sie öffnen und schließen sich durch Druckdifferenzen.“ Bei Herzklappenerkrankungen oder -fehlern, häufig durch Krankheiten oder Alter verursacht, wird eine Herzklappe undicht. Dann ist sie erschlafft, überdehnt, beschädigt oder verengt. Dann kann weniger Blut hindurchströmen oder es strömt teilweise wieder ins Herz zurück. Cox: „Dann muss es sich mehr anstrengen, um ausreichend Blut in den Kreislauf zu pumpen.“
In Industriestaaten leiden etwa zwei Prozent der Bevölkerung an Herzerkrankungen. Hunderttausend Patienten werden jährlich an Herzklappen operiert – 5000 in unserem Land. Wohlgemerkt 80.000 Kinder weltweit, vielleicht auch noch mehr, werden jährlich mit einem Herzklappenfehler an der Pulmonalklappe – der Herzklappe zwischen Herz und Lungen – geboren. „Bereits sehr jung müssen sie sich manchmal drei bis fünf schweren chirurgischen Behandlungen unterziehen. Das ist nicht nur eine große Belastung, sondern auch teuer und riskant. Auch müssen sie ihr ganzes Leben lang medikamentös behandelt werden.“
Das muss anders gehen, fand er. Die Idee: Eine abbaubare Kunststoffherzklappe, die die Herzzellen „trainiert“, selbst Herzklappengewebe zu bilden, und die sich auflöst, wenn in einem Herzen eine ausgewachsene natürliche Klappe aus körpereigenem Material existiert. Cox: „Anfangs entnahmen wir den Patienten dazu Zellen. Die wurden in eine Form gegeben, in Form einer Herzklappe, um sie mit Hilfe eines Bioreaktors so gut zu trainieren, dass sie von selbst eine große Menge starken Gewebes bilden würden. Die Form wird dem Patienten eingesetzt. Aber diese Methode erwies sich als teuer und komplex.“ Glücklicherweise kann er nach Abschluss seines Studiums an der TU/e bleiben. Mit anderen Doktoranden nimmt er die Herzklappenforschung in Angriff. „Ich wollte mehr begreifen.“ Er sagt es oft: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, ein Zitat von Nietzsche. „Wenn man Fehlschläge versteht, kann man sie vermeiden. Man lernt mehr von einem einzigen misslungenen Experiment als von zehn gut laufenden.“
Sein Promotionsprojekt an der TU/e konzentriert sich auf neue Weisen, um die Stärke der Gewebe zu messen. Allmählich denkt er schon: „Wenn ich jetzt ein eigenes Unternehmen gründen würde. Könnte ich das?“ Er belegt verschiedene Fächern über Unternehmensführung. Während eines Ausflugs mit seiner Fachgruppe in den italienischen Alpen erzählt sein Professor am Flughafen von Mailand, die Fachgruppe habe Zuschüsse für Unternehmensgründung erhalten. Ein Spin-off für einen nächsten Schritt der Forschung, für die Produktentwicklung. „Ich dachte, ich steige sofort zu ihm ins Auto.“ Seine Anhalterinitiative wurde belohnt. Und das bedeutet 2007 die Gründung von QTIS/e, also Quality Tissue Engineering. „Der Schrägstrich mit dem e ist ein Hinweis auf die Universität von Eindhoven.“
Drei Jahre später, er hat sein Promotionsprojekt sowie einen zweijährigen Master in Business Innovation abgeschlossen, besteht QTIS/e aus zwölf Personen. Und dann klopft jemand an die Tür. Xeltis aus der Schweiz, ein Spin-off der Universität von Zürich. Auch das Unternehmen beschäftigt sich mit der Entwicklung einer Kunststoffherzklappe. Cox: „Sie waren stark im Business Development, hatten mehr kommerzielle Leute. Wir beschäftigten uns mehr mit Forschung.“ Eine perfekte Kombination. Keine Mitbewerber, sondern eine Ergänzung. Das Labor für Forschung und Entwicklung blieb in Eindhoven, die Hauptverwaltung in Zürich. „Sie waren dort näher an unseren Schweizer Investoren.“
In der Züricher Hauptverwaltung sitzen immer noch fünf Menschen. Das Labor in Eindhoven wuchs weiter auf 50 Leute, dort wird weiter an einer Kunststoffherzklappe gearbeitet. Und die gibt es, dort steht sie. Ein Röhrchen ist es, mit einem Durchmesser von etwa 17 mm, sehr leicht ist es auch. In der Mitte befindet sich ein Ring, er sieht aus, als habe jemand verschiedene Nagelabdrücke hinterlassen. Sinusse, präziser ausgedrückt. An dieser Stelle ist es von innen mit drei Häutchen verschlossen, in geschlossener Form sieht es fast so aus wie das Logo von Mercedes. Genau die Form einer natürlichen Herzklappe, sagt Cox. Drücken Sie mal, fordert er auf. Dann sieht man, wie sie sich von selbst öffnet und schließt. „Blut kann nach oben gepumpt werden, dann öffnen sich die Häutchen, jedoch nicht nach unten, denn dann schließen sie sich.“
Das Röhrchen fühlt sich wie Papier an, aber Vorsicht, das darf man so absolut nicht sagen. „Das wäre respektlos.“ Es ist ein biologisch abbaubares Polymer, auch in Eindhoven entwickelt. Die offizielle Bezeichnung lautet supramolekulares Polymer. Erfunden wurde es vom französischen Chemiker Jean-Marie Lehn sowie den beiden amerikanischen Chemikern Donald Cram und Charles Pederson. Für die Entwicklung der supramolekularen Chemie wird das Supertrio 1987 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Ein Hochschullehrer der TU/e nutzt ihre Erfindung als Grundlage. Und heute dient sie als Ausgangsmaterial für die bahnbrechende biologisch abbaubare Herzklappe. Cox: „Als der französische Chemiker hörte, wofür wir seine Erfindung anwendeten, wollte er sofort Mitglied des Beratungsgremiums werden.“
Das nobelpreisgekrönte Polymer wird bei Xeltis umgeschmolzen. Mit Hilfe eines Elektrospinnverfahrens spinnt man davon ultradünne Fäden, dünner als ein Haar: die Grundlage des Röhrchens. Wie lang der Webfaden ist, will Cox nicht verraten. „Aber gehen Sie davon aus, dass es mehrere Kilometer sind“, grinst er. „Es lässt sich mit bloßem Auge nicht erkennen, dass das Material eine poröse, offene Struktur hat. So bietet es Zellen aus dem Blutkreislauf buchstäblich Platz, um selbst Herzklappengewebe zu bilden. Die Kunstklappe ist eine Art Monteur, der die eigene defekte Herzklappe repariert. So ähnlich als wenn man sich in den Finger schneidet. Das wird auch von selbst wiederhergestellt, ohne eine Narbe zu hinterlassen.“
Ende 2016 erhalten insgesamt zwölf Kinder aus der Schweiz, aus Polen, Ungarn und Malaisen eine neue Pulmonalklappe. Das ist die Klappe zwischen der rechten Herzkammer und der Lungenschlagader, die dafür sorgen soll, dass das Blut nicht zurück ins Herz fließt. In Amerika begann kürzlich eine Studie, in der noch 10 Kinder aus Amerika ein Xeltis-Exemplar erhielten. Cox: „Zunächst sind Kinder unsere erste Zielgruppe. Sie profitieren am meisten von der Bildung einer natürlichen neuen Herzklappe. Es gibt bei ihnen auch mehr Probleme mit Kunstklappen als bei Erwachsenen. Bei ihnen ist die Not also größer, das Risiko jedoch kleiner. Mit unserer Kunstklappe brauchen sie möglicherweise nicht wiederholt operiert zu werden, vielleicht brauchen sie auch keine Medikamente mehr einzunehmen.“
Hat die Herzklappe von Xeltis für Kinder Erfolg, dann folgt eine Version für Erwachsene. Mit einem größeren Durchmesser. Deshalb beschäftigt man sich mit der Entwicklung einer künstlichen Aortenklappe, und ja, das erfordert ebenfalls langjährige Forschungsarbeit. Die Form, die Dicke, die Art und Weise der Implantation: Jede Klappe sieht etwas anders aus und hat eine etwas andere Funktion. Cox: „Wir wissen zwar, dass sich Gewebe bildet und was für Gewebe das ist, jedoch noch nicht genau, wann und warum es sich dort bildet, und wodurch Variationen entstehen.“ Und Variationen, die mögen Forscher überhaupt nicht. „Natürlich, jeder Mensch ist anders, aber vielleicht lässt sich ein Muster entdecken, das sich in mathematische Modelle und eine Messmethode umsetzen lässt, sodass wir das noch besser verstehen lernen. Die Lösung haben wir noch lange nicht.“
Die Investoren jedenfalls lieben Xeltis. Im Vorjahr gab‘s Neuinvestitionen in Höhe von 45 Millionen Euro, die größte Investitionsrunde des Jahres für ein europäisches Privatunternehmen für medizinische Hilfsmittel. In den Jahren 2014 und 2015 erhielt der medizintechnische Start-up insgesamt bereits 57 Millionen Euro. Das Geld werde gebraucht, meint Cox, um das Produkt zu perfektionieren und die Anzahl der Labormitarbeiter aufzustocken. „Wir untersuchen, wie man die Herzklappe, zusammengefaltet zu einem dünnen Röhrchen, bei Erwachsenen über die Leiste einsetzen kann. Am Ziel angekommen wird es sich mit Hilfe von Metallfedern entfalten. Eine Operation am offenen Herzen wäre dann nicht mehr erforderlich.“
Und doch, es könnte sein, dass die Herzklappe niemals auf den Markt kommt. Eine Erfindung, mit der man jährlich Zehntausende behandeln könnte, mit der sich die Zahl der Komplikationen, der wiederholten Operationen und der Kosten im Gesundheitswesen vermindern ließen, ganz zu schweigen von all den Babys mit angeborenen Herzklappenfehlern. Vor allem weil die europäischen Regeln immer strenger werden. Eine der Ursachen dafür ist der Skandal um die Brustimplantate, weiß Cox. „Wir arbeiten an einem komplexen und neuartigen Produkt. Sowohl technisch als auch juristisch.“ Er ist der Überzeugung, dass alles gut wird. Alle Signale zeigen in die Richtung. „Allen, die hier arbeiten, gibt es ein gutes Gefühl, was wir machen. Es ist ein sinnvolles Produkt. Die Auswirkungen auf das Leben von Betroffenen sind enorm, ihr Leben verbessert sich. Es macht einen stolz, es macht alle Mitwirkenden stolz. Alle reagieren begeistert, wenn wir erzählen, womit wir uns beschäftigen. Das motiviert noch mehr. Und Aufgeben: Das gibt‘s bei mir nicht. Er weiß: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“
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