Sydney, 7. Juli 2019. An dem Tag, an dem die Oranje-Löwinnen ihr WM-Finale gegen die USA spielen, treten die Fußballroboter von Tech United gegen China um die Weltmeisterschaft an. Zwei Minuten vor Ende der regulären Spielzeit steht es 3:3. Entlang der Linie ertönt plötzlich ein fassungsloses „Nein!": China hat getroffen. Wird ein Jahr harter Arbeit mit einer Niederlage enden?
Wegen früherer Verzögerungen gewährt der Schiedsrichter zwanzig Sekunden zusätzliche Spielzeit. Dann steht Lieke Motors plötzlich vor dem Tor. Zuerst erwischt sie den Ball nicht gut, aber dann bekommt sie ihn unter Kontrolle und versenkt den Ball im Tor! Es ist wieder Gleichstand. Das bedeutet Verlängerung. Es ist wieder alles offen...
„Dieses Finale war so aufregend – es hat uns Jahre unseres Lebens gekostet", blickt Wouter Kuijpers, Teamcoach und Maschinenbau-Doktorand an der Technischen Universität Eindhoven, zurück. „Wir arbeiten hier mit dem Team ein Jahr lang darauf hin und während der Weltmeisterschaft selbst programmieren wir oft noch bis spät in die Nacht. Aber am Ende hängt alles von diesem einen Spiel ab.“ Man sollte meinen, die Programmierer wüssten genau, was sie von ihren Robotern erwarten können. Dennoch verfolgen sie die Aktionen von Lieke Motors, Jackie Groenestroom und den vier anderen Damen oft mit angehaltenem Atem.
Die Fußballroboter, mit denen Tech United bei der RoboCup-Weltmeisterschaft antritt, spielen völlig autonom: Nach dem Anpfiff des Schiedsrichters müssen sie alles selbst machen, und das Team kann nur noch tatenlos zusehen. Wenn doch ein Mensch auf den Platz muss, zum Beispiel weil ein Roboter hart angegangen wurde und nicht mehr will, führt dies zu Strafsekunden. Die echte Arbeit findet daher außerhalb des Platzes statt, und abgesehen von der Softwareentwicklung geht es weitgehend um Mechanik. Wouter Kuijpers: „Vor allem auf diesem Gebiet sehen wir noch viele Möglichkeiten für Verbesserungen.“
Eine solche Verbesserung beruht ganz auf dem nervenaufreibenden Endspiel von 2019. Die chinesischen Roboter sind schnell. Die Feldspieler von Tech United kommen kaum an ihnen vorbei. Das wird dem Team aus Studenten, Doktoranden und Mitarbeitern der Technischen Universität Eindhoven (TU/e) nicht noch einmal passieren. Deshalb arbeiten sie jetzt hart an einem Roboter mit nicht drei, sondern acht Rädern. Ein ähnlicher Roboter wird auch in einigen Krankenhäusern getestet. Dort kann er später Krankenhausbetten schieben – in der Regel eine (zu) schwer belastende Arbeit für Krankenschwestern und Krankenpfleger. Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie das Spiel Innovationen vorantreibt, die in einer Vielzahl von Bereichen angewendet werden können.
Ein weiteres Beispiel – diesmal im Bereich der Software – ist die Weltmodellierung (die Visualisierung des Weltbildes der Roboter), die entwickelt wurde, um den Gegner im Auge zu behalten und alle Möglichkeiten zum „Passen" (Dreiecke bilden) und zum Schuss aufs Tor zu erkennen. Dieses Modell wird auch in einem Projekt mit Partnern aus der Wirtschaft, wie Vanderlande und Lely, verwendet. Das Ziel: einen Roboter entwickeln, der sich mühelos in einem Raum bewegen kann, in dem Menschen, Tiere oder andere Roboter laufen oder fahren.
Tech United reist als einer der großen Favoriten zur Weltmeisterschaft in Sydney. Die Fußballroboter aus Eindhoven erreichten schon elf Mal das Finale und gewannen bereits vier Mal. Doch sie haben einen schlechten Start: Der Kompass, mit dem die Roboter ihren Standort bestimmen, funktioniert nicht in der großen Halle, in der das Turnier stattfindet. Nur noch zwei Tage bis zum ersten Spiel. Es wird fieberhaft nach einer Lösung gesucht. Das erste Spiel – gegen einen leichten Gegner – muss sogar aufgegeben werden, weil die Damen vollkommen orientierungslos sind und vom Platz fahren.
„Schließlich haben wir das auf eine wenig spektakuläre Art gelöst”, berichtet Kuijpers. „Indem wir dafür sorgen, dass die Roboter zu Beginn des Spiels auf das gegnerische Tor ausgerichtet sind. Von diesem Moment an merken sie sich ihre Bewegungen und Wendungen. Aber diese „einfache“ Lösung bedeutet eine enorme Abänderung der Software. Erst nach vier Spielen lief alles wieder richtig. Dann hat man eine Menge aufzuholen.“ Dass dies gelingt und das Finale gegen China schließlich mit 6:4 gewonnen wird, ist laut Wouter Kuijpers vor allem der Tatsache zu verdanken „dass wir gut und schnell passen und Raum auf dem Platz kreieren können.“ Dabei geht es vor allem um eine gute Kommunikation zwischen den Robotern. Wie das funktioniert? Wouter Kuijpers: „Bei Demos in Schulen erzählen wir, dass die Roboter in einer WhatsApp-Gruppe sind und sich ständig gegenseitig Nachrichten schicken: „Ich bin hier“. Sie teilen auch ständig miteinander, was sie sehen: den Ball, die Gegner, einander usw."
Aber es sind nicht die Roboter, die hier Hochleistungssport betreiben. Eine Woche lang programmieren die Teammitglieder zwölf, manchmal sogar vierzehn Stunden pro Tag. „Das hat hauptsächlich mit dem Spielfeld und den Gegnern zu tun", erklärt Wouter. „Unser Feld an der TU/e ist um ein Vielfaches kleiner, und es gibt dort keine Gegner. Was an der TU/e tadellos klappt, funktioniert bei einem solchen Turnier plötzlich nicht mehr. Man muss also alle möglichen Anpassungen vornehmen. Außerdem lassen wir uns während des Wettbewerbs ständig Neues einfallen. Wir speichern alle Weltmodelle eines Spiels und sehen uns die dann danach an: Wo ist es schiefgelaufen, was ist der Grund dafür und wie lösen wir es? Wir haben zum Beispiel gesehen, dass unsere Roboter oft nicht passen können, weil die chinesischen Roboter nahe beieinanderstehen. Könnten wir da dann nicht hindurch schießen, haben wir uns gefragt. Mit ein paar Abenden programmieren, bis tief in die Nacht, haben wir das dann hingekriegt. Und dann fällt uns wieder etwas anderes auf...“
Einige Monate nach dem Turnier kommen alle Mannschaften zusammen und alle Daten werden untereinander ausgetauscht. Anschließend die Hände in den Schoss legen ist nicht drin: Die Organisation ändert jedes Jahr die Regeln und stellt höhere Anforderungen. Das zwingt die Teams zu kontinuierlicher Innovation. Ihr letztendliches Ziel ist daher auch nicht gerade niedrig angesetzt: Sie wollen autonome Roboter entwickeln, die den FIFA-Weltmeister im Jahr 2050 vom Platz fegen.
Sydney, Juli 2019. Auf der anderen Seite der RoboCup-Halle wird ein völlig anderes Spiel gespielt. Hier stellt sich Tech United mit dem autonomen Pflegeroboter Hero einer Vielzahl häuslicher Herausforderungen. Von „bring den Müll raus“ bis „räum die Einkäufe auf“. Die Spannung ist nicht geringer. Alles läuft wie am Schnürchen, aber lasst uns nicht zu früh jubeln. Denn wisst ihr noch was 2018 passierte?
„In diesem Jahr haben wir mit unseren selbstgebauten Pflegerobotern Amigo und Sergio teilgenommen", erzählt Josja Geijsberts, Teamkapitänin und seit kurzem diplomierte Maschinenbauingenieurin. „Mit Ihnen haben wir acht Mal in der Open Standard League gespielt. Das bedeutet, dass man mit jeder Art von Roboter teilnehmen kann. Bis kurz vor dem Endspiel lief es richtig gut. Dann ging Amigos Greifer kaputt, als er den Geschirrspüler öffnete. Null Punkte, kein Finale, kein Pokal. Und das, obwohl unsere Software perfekt funktionierte.“
Mit Hero spielt das Team 2019 zum zweiten Mal in der Domestic Standard League. Dann hat jeder den gleichen Roboter und es geht nur um die Software.
Wie viele ihrer Teamkollegen kam Josja Geijsberts über ein Bachelorprojekt zu Tech United. „Ich habe bei den Fußballern angefangen, aber nach einer Weile habe ich zu den Pflegerobotern gewechselt. Hier hat man mehr Raum für Kreativität. Bei den Fußballrobotern muss man sich an alle möglichen strengen Regeln halten und sehr effizienten Code schreiben: Eine Millisekunde kann den Unterschied zwischen Gewinn und Verlust bedeuten. Bei den Pflegerobotern geht es vor allem um Robustheit. Schließlich sollen sie irgendwann Pflegerinnen und Pflegern Arbeit abnehmen. Mit Hero führen wir bereits verschiedene Versuche in Pflegeeinrichtungen durch. Mein Traum: dass jede Abteilung einer solchen Einrichtung bald über einen Pflegeroboter verfügt und je nach der Aufgabe und der Vorliebe des Klienten einen Roboter oder Betreuer einsetzen kann. Dadurch hat das Pflegepersonal mehr Zeit für persönlichen Kontakt.“
Die Aufgaben, die die Pflegeroboter bei den Weltmeisterschaften zu erledigen haben, mögen einfach klingen, doch sie haben es in sich. Zum Beispiel „Personen empfangen“. Zunächst muss der Roboter ständig wissen, wo er sich gerade befindet (Lokalisierung) und er muss in der Lage sein, irgendwo hinzufahren, ohne zu kollidieren. Oder eine alternative Route finden, wenn ein Pfad versperrt ist (Navigation). Dazu hat er unter anderem einen Laser am „Fuß" und eine 3D-Kamera als Auge. Außerdem muss er in der Lage sein, ein Gespräch mit den Gästen zu führen (indem er erkennt, was sie sagen und darauf eine relevante Antwort gibt), einen leeren Platz auf der Couch zu erkennen, damit er den Personen einen Platz zuweisen kann, jedem Gast das richtige Getränk bringen und so weiter.
Auch bei diesem Wettbewerb gilt, dass das Team, sobald der Roboter die „Arena" betritt, nicht mehr eingreifen darf. Und dass die kleinste unerwartete Veränderung der Umstände die Teilnahme beenden kann: ein Möbelstück, das verschoben wurde, eine angelehnte Tür, der Lärm in der Wettkampfhalle. Geijsberts: „Deshalb sind diese Wettkämpfe so wichtig. Um die erforderliche Robustheit in einer unstrukturierten menschlichen Umgebung zu schaffen, ist es entscheidend, dass der Roboter entsprechend mit unerwarteten Veränderungen umgehen kann.“
Wenn etwas misslingt, weiß das für diese Aufgabe zuständige Teammitglied meist genau, was beim Code abgeändert werden muss (Datei x, Zeile 37! ). Zwei Mal kann ein Joker eingesetzt und die Aufgabe wiederholt werden. Dann hält das gesamte Team den Atem an: Wird Hero es diesmal besser machen? In Sydney geht überraschend wenig schief. Doch mit dem Debakel von 2018 noch frisch im Gedächtnis, wagt das Team noch lange nicht, auf einen Sieg zu hoffen.
Das Finale ist eine offene Aufgabenstellung. Ein gefundenes Fressen für Tech United. „Für uns ist dies die Gelegenheit, eine Reihe von starken Weiterentwicklungen zu zeigen, die bei den anderen Aufgaben nicht genutzt wurden", sagt Josja Geijsberts. „Zum Beispiel kann man Hero mit dem Handy eine Nachricht schicken: „Ich sitze auf dem Sofa und möchte gerne eine Dose Cola“.
Und dann bringt er einem die Cola. Man kann auch zu ihm sagen: „Ich suche ein ungefähr 25-jähriges Mädchen in einem roten T-Shirt“. Und dann sagt er: „Dann suchst du möglicherweise Josja“. Wir haben nämlich Software zur Personenerkennung entwickelt. Damit ordnet der Roboter Menschen Merkmale wie Alter, Geschlecht und der Farbe des T-Shirts zu.“
Diese Innovationen und das Bier, das Hero den Juroren bringt, bringen auch dem Pflegeroboterteam von Tech United den Weltmeistertitel ein. Geijsberts: „Wir wussten, dass wir, wenn wir es erstmal ins Finale schaffen, gute Chancen auf einen Sieg haben, weil die anderen Teams nicht so viel Extras zeigen konnten.“ Ihrer Meinung nach ist der Sieg vor allem eine Belohnung für die Anstrengungen, die das Team seit zehn Jahren unternimmt, damit die Software universell bleibt. „Wir hatten immer im Hinterkopf, dass sich die Hardware ändern wird. Alles, was wir im Laufe der Jahre für Sergio und Amigo entwickelt haben, kann also auch für Hero verwendet werden – auch wenn er ganz anders funktioniert.“
Beide Teams freuen sich schon auf die nächste Weltmeisterschaft im Jahr 2021. Robotik entwickeln ist faszinierend. Doch Weltmeister werden ist das Allerschönste.
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